Das Geheimnis der Metaphysikkritik
Schopenhauer und die metaphysische Kontemplation
Yasuo Kamata



1. Das Geheimnis der Metaphysikkritik: Kontemplation

Das Geheimnis der Metaphysik ist die Kontemplation.(1) Mein Anliegen ist es, darüber hinaus zu zeigen: Das Geheimnis der Metaphysikkritik ist ebenfalls die Kontemplation.

Die Kritik an der Metaphysik wird heute in erster Linie geübt vom neuzeitlich-naturwissenschaftlich geprägten Wissenschaftsverständnis. Die Kritik richtet sich gegen jegliche Aussagen über Gegenstände, die sich nicht wirklich oder zumindest ihrer Möglichkeit nach auf die empirische Wahrnehmung bzw. die experimentelle Nachprüfung stützen könnten. Diese seien keine "sachhaltig-sinnvollen" Aussagen, gehörten zu den Scheinproblemen der Philosophie und verdienten nicht, Wissenschaft genannt zu werden.(2) In der Folgezeit wurde diese Metaphysikkritik ihrerseits dessen verdächtigt, was sie selbst kritisierte - verdächtigt wegen ihrer empirisch-experimentell nicht überprüfbaren Prämissen: Daß nur das empirisch Wahrnehmbare in das logisch versammelte und durchartikulierte Universum der Wissenschaft gehören dürfe, daß dieses Einheitsgefüge den Anspruch auf die theoretische Alleinherrschaft über die Welt zu erheben berechtigt sei. Unter ihrem Gewand des unparteiisch-wertneutralen Objektivismus und Szientismus wurde zudem die Verschmelzung von Technik und Herrschaft vermutet, ihr Unternehmen als Ideologie des neuzeitlichen Bürgertums entlarvt.(3) Wenig später aber mußte auch der Anspruch der Ideologiekritiker auf das Aufklärungs- und Begründungsmonopol auf mehrfache Skepsis und Polemik stoßen.(4)

Trotz der mehrfachen Kritik am positivistisch-szientistischen Wissenschaftsverständnis wurde die von diesem formulierte Metaphysikkritik nicht geschwächt. Im Gegenteil: Der Siegeszug des Szientismus und dessen Mythologisierung scheinen in der wissenschaftlich-technischen Praxis unaufhaltbar.

Woher kommt die allgemeine Feindseligkeit gegen die Metaphysik, daß man es sogar als zulässig ansieht, ohne weitere Nachfragen den Ausdruck "Metaphysik" so selbstverständlich pejorativ als Reizwort einzusetzen, obwohl wir endliche Menschen alle in gewisser Weise die Ebene brauchen, die über das einzelne, empirisch Wahrnehmbare hinauszeigt, wo erst Zusammenhang und Sinn einzelner Gegebenheiten sichtbar werden, in religiöser Sprechweise: obwohl die Erlösung des sterblichen Menschen nur auf der Ebene des Übersinnlichen möglich, in der sinnlichen Welt aber schlechthin hoffnungslos ist.

Die Metaphysikkritik, die als gleichsam moderne Hexenverfolgung durch das ganze Territorium des Wissens tobt, verrät aber zum Teil von sich selbst, was sie eigentlich ist. Denn das eigentliche Angriffsziel der Metaphysikkritik ist nicht primär das scheinbare Objekt der Kritik: weder das Dasein des übersinnlichen Wesens im Falle der traditionellen Onto-Theo-Logie noch die szientistischen oder ideologiekritischen Voraussetzungen und Erkenntnisinteressen im Falle einer modernen Metaphysik. Sie richtet sich in Wirklichkeit durch diese Objekte der Kritik hindurch gegen die egozentrische Selbstgerechtigkeit, gegen ihre Geschlossenheit und ihren Machtanspruch, in denen die jeweilige Gestalt der Metaphysik das Sein des Seienden willkürlich konstruiert und durchsetzt. Durch deren Selbstgerechtigkeit und Machtanspruch werden auch ihre guten Taten in Mitleidenschaft gezogen. Die Metaphysikkritik scheint insofern einem aufklärerisch-emanzipatorischen Interesse zu folgen. Eigentlich holt sie das nach, was die von ihr kritisierte Metaphysik halbwegs hat stehen lassen, um selbst wieder denselben Fehler zu wiederholen. Wo sind aber die kritisierte Selbstgerechtigkeit, Geschlossenheit und Gewalttätigkeit zu Hause? Sind sie nicht auch die Hauptmerkmale der neuzeitlichen Aufklärung selbst, die im Begriff "Autonomie" ihre Formel gefunden haben, um derentwillen die Befreiung von ihnen notwendig ist? So ist dann die Überwindung der Fremdherrschaft die Voraussetzung für die Selbstherrschaft, wobei immer der Träger der Herrschaft, nicht aber der Gedanke der Herrschaft als solcher in Frage gestellt wird. Die Überwindung der einen Herrschaft zaubert die andere, emanzipatorische, und am Ende die von sich selbst völlig überzeugte, verzauberte Herrschaft, hervor. Die absolute Freiheit schlägt in den Terror um. Die Metaphysik hat mit und seit Aristoteles das Wissen vom Seienden in seiner Seiendheit zu ihrem Thema gemacht, sie stellte die Frage nach dem Ursprung des Seienden, der das Seiende sein läßt. Man denkt und spricht das Sein zwar als das Sein des Seienden an - aber nur insofern, als die auf die Seienden gerichtete Sprache es vermag, zumal ihre Denk- und Sprechweise bereits im jeweiligen geschichtlichen Zusammenspiel von Sein und Seiendem, in dem sie gesprochen wird, mitgestaltet und durchartikuliert ist. Das Sein ist die Auszeichnung, die wir der Gesamtdynamik verleihen, in der das Zusammenspiel von Sein und Seiendem als Geschichte erfahren wird. In derselben Erfahrung muß sie uns aber aufgrund der geschichtlichen Ausgelegtheit der jeweiligen Denk- und Sprechweise verborgen bleiben. Der oft irritierende und mißverstandene Ausdruck "Sein" soll auf der einen Seite die Verborgenheit jener ursprünglichen Möglichkeit hervorheben, daß wir uns also davor hüten müssen, ihm eine bestimmte Ordnung nach unserer Denk- und Sprechstruktur oder einen Machträger der Herrschaft des Seienden hinzuzudenken. An dieser Stelle sei noch einmal unterstrichen, daß, was oben Dynamik bzw. Möglichkeit genannt wird, weder als höchste Substanz-Ursache, woraus alles Seiende hinausflösse, noch als das allmächtige Kraftzentrum, das alles Geschehen lenkte, aufzufassen ist, auch wenn der im neuzeitlichen Herrschaftsdenken verfangene Mensch darin seinen Wunschtraum erfüllt sehen wollte. Auf der anderen Seite werden in dieser Anerkennung der Verborgenheit der ursprünglichen Möglichkeit des Seienden als solchen die Benennungen mit "Sein" oder anderen Titeln keine Gefahr bedeuten. Sie wird sogar hilfreich sein, uns der Eingebundenheit des Seienden an das Sein bildhaft zu er-innern, ohne in die Versuchung zu kommen, uns jener ursprünglichen Möglichkeit zu bemächtigen. Diese beiden, warnend-abschreckenden und zurufend-entgegenkommenden Aspekte des Seins sowie die Idee der Ausgewogenheit beider im Zusammenspiel von Sein und Seiendem finden wir im abendländisch-christlichen Gottesbegriff wieder. An diesem Punkt entfaltet möglicherweise die abendländische Metaphysik als Onto-Theo-Logie ihr wunderbares, schönstes Gesicht.

Auch wenn die Metaphysik in ihrer Geschichte verschiedene Auslegungen und Bedeutungsverschiebungen erfahren hat, war sie in ihren Anfängen weniger der Anmaßung unterworfen, den Ursprung alles Seienden zu begreifen, dieses gar hervorzubringen.(5) Vielmehr war sie bemüht, in den sichtbaren Seienden das verborgene und unverfügbare Sein zu vernehmen. Die Verwunderung über die Fügung des Seins,(6) die der Mensch mit Hilfe der intellektuellen, geschweige denn der handlungsmäßigen Werkzeuge unmöglich bewältigen kann, war der Anfang der Philosophie. Die nicht minder interessante Frage, ob und inwiefern die von Verwunderung geleitete Metaphysik der Antike bereits der anfängliche Ausdruck für die darauf folgende Verschiebung der ontologischen Differenz von Sein und Seiendem in die ontische Differenz von höchstem Seienden und endlichem Seienden gewesen sei, die Frage, die den späten Heidegger zum Rückgang über Platon auf die Vorsokratiker veranlaßt hatte, muß hier zurückgestellt werden. Jedenfalls geriet die ontologische Differenz in den Bann eines überwältigenden, eindeutig-ontischen Blicks (wie er sich in der abendländischen Geschichte ausformte) zur Differenz von geistig Seiendem und weltlich Seiendem, ferner zur Herrschaft des übersinnlich-geistig Seienden über das sinnlich-materiell Seiende, die, als Idee der Theoriebildung, der neuzeitlichen Wissenschaft in Fleisch und Blut übergegangen ist. Deshalb verbinden wir heute diese Eigenschaft des Herrschaftsdenkens mit der meist pejorativ verstandenen "Metaphysik".

In der abendländischen Geschichte der Metaphysik (mit ihren vielfältigen Varianten bis hin zum Szientismus und der Ideologiekritik) ist ihre anfängliche Erfahrung der Verborgenheit des Seins jedoch nicht völlig vergessen worden. Die Alleinherrschaft des höchsten Seienden oder der Vorrang der Theorie oder des Diskurses wurde immer dort hervorgehoben, wo individuell-willkürliche Eingriffe oder kollektive Unterdrückungen die Ordnung und den Frieden des Glaubens, des Wissens oder der Gesellschaft zu bedrohen schienen. Dem Menschen, sofern er im Bereich des sinnlich-materiell Seienden angesiedelt ist, ist der Bereich des übersinnlich-geistigen Seienden grundsätzlich nicht verfügbar. Die Allmacht und Allwissenheit Gottes waren die ausdrucksstärksten Bilder der Unverfügbarkeit, der Transzendenz jener Gesamtdynamik. Gleichzeitig leitet sich daraus der diametral entgegengesetzte Gedanke ab: Wer auf der Seite Gottes steht, dem werden seine Allmacht und Allwissenheit zuteil. Damit wird die Gesamtdynamik auf der Ebene ontischer Zugänglichkeit als Substanz-Ursache des Seienden verfügbar.

Behalten wir diese Zweischichtigkeit der Metaphysik im Auge, so ist klar, was die Argumente sowohl der Metaphysikkritik als auch der pejorativ verstandenen, zu kritisierenden Metaphysik gemeinsam haben: Sie beide versuchen, über die Egozentrik des Herrschaftsdenkens Herr zu werden, fallen jedoch in der Bemühung des Herrwerdens selbst in das zu überwindende Herrschaftsdenken zurück. Die ständige Wiederkehr der Metaphysikkritik in verschiedensten Gestalten ist das Sinnbild dieser in sich selbst kreisenden, vergeblich-ausweglosen Bemühung der Selbstaufhebung des neuzeitlichen Herrschaftsgedankens. Sie ist der Schrei der selbstverblendeten neuzeitlichen Subjektivität nach Erlösung. Diese kann aber nur dort erlangt werden, wo das unablässig agierende (setzend-durchsetzende) Herrschaftsdenken nicht mehr als einzige Denk- und Lebensform vorausgesetzt wird, wo der neuzeitlich-subjektivisch verblendete Wille zur Produktion - selbst des Seins - (mit Schopenhauer gesprochen: jener blinde Wille zum Leben) sich selbst aufhebt. Ein nicht vereinnahmender, sondern selbstlos lassend-gelassener, in dem Sinne heiliger Umgang mit dem anderen und mit sich selbst ist das, wonach sich die scheinbar unaufhaltbare Metaphysikkritik sehnt. Die Kontemplation ist das Geheimnis nicht nur der Metaphysik, sondern auch der Metaphysikkritik.(7)

Zwischenspiel

Das Geheimnis der Metaphysikkritik ist die Kontemplation - das heißt: es geht der Metaphysikkritik nicht primär um die Frage nach der Existenz oder Geltung des übersinnlichen Bereichs, sondern um die Frage, wie wir neuzeitliche Menschen mit der immer stärker werdenden Selbstbehauptung fertig werden. Gerade in der Geschichte der Metaphysikkritik haben wir aber gesehen, in welchem Ausmaß uns die neuzeitliche Subjektivität zum Verhängnis geworden ist: Diese Erkenntnis nämlich in die Praxis umzusetzen, ermöglicht keinen Ausweg. Dies nicht aus dem Grunde, daß wir hierzu nicht mächtig genug sein sollten. Dieses In-Praxis-Umsetzen vermag uns vielmehr - als eine Art Setzen und Durchsetzen - gar nicht aus dem Zauberkreis der neuzeitlich-setzenden Subjektivität hinauszuführen. Das zielbewußt-disziplinierte Streben des neuzeitlichen Menschen nach Befreiung von seiner egozentrischen Selbstgerechtigkeit in der Gestalt der Selbstherrschaft (Autonomie) verstärkt geradezu den blinden Willen zu sich selbst, es verfehlt in dieser Selbstverblendung das Ziel. Das Ideal der freien Entscheidung des Subjekts, die aus seiner eigenen Überzeugung und insofern u. U. gegen die Kommunität geschehen soll, ist nun zur Tugend des neuzeitlichen Bürgers, nicht nur im politisch-ökonomischen Handeln, sondern auch im zwischenmenschlichen Umgang und im religiösen Glauben geworden.(8)

Das freie Subjekt ist nunmehr sich seiner selbst als des zwiespaltig-unglücklichen Bewußtseins bewußt, dessen Darstellung zu einem wichtigen Thema der neueren Kunst und Literatur wurde. Wagners Tannhäuser, Verkörperung des neuzeitlichen Subjekts, berichtet:

"Wie neben mir der schwerstbedrückte Pilger
die Straße wallt', erschien mir allzu leicht: -
Betrat sein Fuß den weichen Grund der Wiesen,
der nackten Sohle sucht' ich Dorn und Stein."
(9)

Trotzdem - nein, gerade deshalb mußte ihm in Rom verkündet werden:

"Wie dieser Stab in meiner Hand
nie mehr sich schmückt mit frischem Grün,
kann aus der Hölle heißem Brand
Erlösung nimmer dir erblühn!"
(10)

Die Aussagekraft dieser Oper besteht in der Einsicht, daß die Sühne nicht von ihm selbst, sondern durch Elisabeths Liebestod (Tod als Sinnbild der Aufhebung der Egozentrik und Liebe als Sinnbild der Kommunität ) eingeleitet wird.

Die historische Elisabeth von Thüringen, der Tannhäusers Erlöserin nachempfunden war, hat, außer ihrem gemeinsamen Sitz in Wartburg wenig mit dieser gemein, doch können wir an ihr und ihren zeitgenössischen "Mystikerinnen" auch parallele Probleme sehen, die mit der Aporie der Aufhebung der menschlichen Egozentrik, die als das Wesen der Sünde interpretiert werden kann, zusammenhängen. Ihre Selbstlosigkeit stieß gegen das im ausgehenden hohen Mittelalter immer dominanter gewordene, aktionsbetonte Lebensgefühl, in dem neben der materiellen und geistigen Produktivitätssteigerung auch die Selbstbehauptung und der Machtanspruch sowohl auf individueller wie kollektiver Ebene immer deutlicher hervortraten. Zwangsläufig nahm sie selbst eine, wenn nicht charismatisch-prophetische, dann bewußt-selbstlose Gestalt der radikalen Rollenverweigerung(11) einer Landgräfin an, was gegen ihre eigentliche Absicht nicht nur dem frommen Volk, sondern auch dem neuen, aktionsbetonten Lebensgefühl der Zeit gefallen haben dürfte. Um so strenger mußte die asketische Selbstentsagung und Selbstaufopferung, bei Elisabeth von Thüringen eben in ihren Diensten für die Kranken und sozial Schwachen, ausfallen, um sich selbst jegliche Chance für die gefährliche Selbstbehauptung zu nehmen.(12)

Die gedankliche Aufarbeitung dieser Aporie findet ihren Höhepunkt bei dem ebenfalls aus Thüringen (bei Gotha) stammenden Meister Eckhart. Es ist eher unwahrscheinlich, daß der junge Schopenhauer, als er im Jahre 1807 (noch vor Schlegels Entdeckung Eckhartscher Handschriften 1808) für seine "Umschulung" vom Kaufmann zum Forscher zuerst an dem Gothaer Gymnasium die Aufnahme fand, dort von Eckhart gehört hat. Nachweislich hat Schopenhauer 1817 Theologia Deutsch gelesen und die folgenden Sätze geschrieben, die dann ins Hauptwerk aufgenommen wurden: "... nirgends ist vielleicht der Gehalt des Christenthums in diesem Sinne vollkommner und zugleich ganz genau übereinstimmend mit meiner Darstellung der Ethik ausgesprochen als in dem sehr alten Buche welches unter dem Titel Taulers Teutsche Theologie bekannt ist."(13) An diesem Ort wiederholt Schopenhauer die Gleichstellung von Heiligkeit und Willensverneinung, welche besteht "in der reinen Liebe, in der gänzlichen Resignation der wahren Gelassenheit, Gleichgültigkeit gegen alle weltlichen Dinge, Absterben dem eignen Willen und Wiedergeburt in Gott, gänzliches Vergessen der eignen Person und Versenken in die Anschauung Gottes".(14)

2. Metaphysik und Schopenhauer

Die Metaphysikkritik verbirgt in sich, wie die Metaphysik, eine Sehnsucht nach der Kontemplation als der Befreiung von der endlos-interessenbeladenen Egozentrik. Schopenhauer gehört zu den wenigen Philosophen der Neuzeit, die sich konsequent mit der Kontemplation und mit der Aporie, die sie im Zusammenhang der Aufhebung der menschlichen Egozentrik mit sich führt, beschäftigt haben: eben in seiner Philosophie der Willensverneinung.(15) Dabei ergab sich eine eigenartige Verbindung von Metaphysik und Metaphysikkritik, die den Philosophiehistorikern des ausgehenden 19. Jahrhunderts vielfache Interpretationsschwierigkeiten bereitet und sie deshalb veranlaßt hat, Schopenhauers Philosophie als widersprüchlich, als Popularphilosophie oder (dezenter) als geniales, buntes Mosaikwerk zu bezeichnen. In diesem abschließenden Teil wird eine Darstellung versucht, wie Metaphysik und Metaphysikkritik in der Schopenhauerschen Philosophie sich auf Kontemplation beziehen. Dabei lassen wir dieses gängige Metaphysikverständnis bestehen.

Dieser vermeintliche Widerspruch läßt sich in unserem Kontext folgendermaßen formulieren: Schopenhauer bleibt auf der einen Seite streng transzendentalkritisch bzw. metaphysikkritisch, er kritisiert den Begriff des an sich Seienden (Ding an sich, Objekt an sich), das der Erscheinungswelt zugrundeliegt. Auf der anderen Seite vertritt er die Metaphysik des Willens, indem er den Willen als Ding an sich bezeichnet, dessen Erscheinung die Welt als Vorstellung sei.

2.1 Schopenhauers Metaphysikkritik

Die "Metaphysikkritik" wird hauptsächlich im transzendentalkritischen Kontext der Welt als Vorstellung geübt.(16) Im Anschluß an die bereits 1812 deutlich formulierte Auflösung des Seins in das Vorstellung-sein, d. h. in das Objekt-für-ein-Subjekt-sein, wird alles, was an sich, jenseits der Dimension des Vorstellung-seins ohne Beziehung auf das Subjekt, da sei, für nichts erklärt. Dieser Bestimmung der Welt als Vorstellung entspricht durchaus der in der Neuzeit gegebene Drang des selbstbewußten Bürgers nach Identität und Autonomie, der sich an kein festes Land der Heteronomie (Substanz) binden läßt. Er nimmt dafür in der Gestalt eines fliegenden Holländers (R. Wagner) die selbstverschuldete, ewige Aufenthaltslosigkeit in Kauf, oder leidet, wie Christian, die Hauptfigur in Bunyans The Pilgrim's Progress (1678/1684), unter der Vereinsamung und Hilflosigkeit: Angst vor seinem eigenen Sein, deren äußerste, unüberwindbare Gestalt der Tod ist. Die Annahme des Dinges an sich selbst hinter der Erscheinungswelt bot in dieser Hinsicht die letzte Hoffnung für das sterbliche Erscheinungswesen, an der zeitlos-ewigen Fortdauer der Unsterblichkeit teilhaben zu können. Der junge Schopenhauer wird zwischen der leidenschaftlichen Sehnsucht nach der erlösenden Übersinnlichkeit jenseits des empirischen Bewußtseins und dem immer überzeugender erscheinenden Gedanken der bewußtseinsimmanenten Einheit der Welt, eben als Vorstellung, zerrissen, um so mehr, als die letztere den endgültigen Verzicht auf die Erlösung von der Sterblichkeit bedeutet. Der Bedeutungswandel des zwischen 1812 und 1814 in seinem handschriftlichen Nachlaß mehrfach vorkommenden Schlüsselbegriffs "besseres Bewußtsein" dokumentiert das Leiden des jungen Schopenhauer(17) . Er wird aber auch mit der wachsenden Erkenntnis begleitet, daß dieses Leiden dem unerfüllbaren Wunsch nach der Unsterblichkeit entspringt und so die Annahme des Dinges an sich jenseits der Erscheinungswelt fordert, daß aber die Thematisierung des Dinges an sich umgekehrt dessen Mangelbewußtsein und damit das Leiden selbst verstärkt. Angesichts dieses Teufelskreises schreibt Schopenhauer: "Daß wir so sehr das Nichts verabscheuen, ist nichts weiter, als ein anderer Ausdruck davon, daß wir so sehr das Leben wollen, und nichts sind, als dieser Wille, und nichts kennen, als eben ihn."(18)

Philosophiegeschichtlich führt Schopenhauer die Fichtesche Metaphysikkritik (im Sinne der Kritik des An-sich-seins, die zum Atheismus- und Nihilismusstreit mit Jacobi u. a. führte) weiter. Dies aber mit dem entscheidenden Unterschied, daß für Fichte die Erscheinungswelt durch den Entschluß des absolut sich selbst bestimmenden Wollens mittels des von ihm selbst hervorgebrachten Zweckbegriffs zu ihrem eigentlichen Sein bestimmt werden soll,(19) während für Schopenhauer die Unabhängigkeit der Erscheinungswelt vom Ding an sich die Möglichkeit eröffnen soll, die Welt als Vorstellung als solche sein zu lassen, ohne die von der Herrschaft der einen, an sich seienden Substanz befreite Welt noch einmal der Herrschaft der anderen Substanz (d. h. des für sich seienden Subjekts) zu unterwerfen. In Schopenhauers Sicht versiegelt Fichte die Verschmelzung von Erscheinung und Wille und verblendet den Willen zum Leben endgültig.

Allerdings stößt der Versuch Schopenhauers, die Welt als Vorstellung unabhängig vom Willen darzustellen, auf seine eigene Schwierigkeit: Die Platonische Idee ist nämlich auch eine Vorstellung. Sie hat den Rang des Vorbildes der sinnlich wahrnehmbaren konkreten Objekte in der Welt als Vorstellung, aber ist selbst als Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis der konkreten Objekte nicht sinnlich wahrnehmbar. Sie ist ein von der Einbildungskraft hervorgebrachtes Phantasma, dem die Vernunft den Rang des allgemeinen Vorbildes zuspricht. Die Einbildungskraft bezeichnet aber die Einwirkung des Willens auf das Erkenntnisvermögen (Aufmerksamkeit). Damit ist die vollkommene Unabhängigkeit der Welt als Vorstellung vom Willen nicht möglich, solange die Welt als Vorstellung ist.

2.2 Schopenhauers Metaphysik

Im Gegensatz zur bewußtseinsimmanent-transzendentalen Analyse der Welt als Vorstellung wird im zweiten Buch des Schopenhauerschen Hauptwerks der Wille als Ding an sich dargestellt, der der Welt als Erscheinung zugrundeliegt. Demnach ist die Welt als Vorstellung die stufenweise Erscheinung (Objektität/Sichtbarkeit/Idee/Spezies) des blinden Willens zum Leben. Jedes Wesen wird von diesen durchdrungen und macht seine eigene Selbsterhaltung zum Endziel, während die Welt, in ihrem Ganzen als Wille betrachtet, kein Endziel hat. Gleichgültig, ob man Schopenhauers Naturphilosophie vorwärts in die Richtung der Darwinistischen Evolutionstheorie oder rückwärts in die Richtung der Schellingschen Naturphilosophie und Potenzenlehre interpretiert, bewirkt sie das gleiche: die Kontemplation. Indem man nämlich erstens die gesamte Stufenleiter vom Anorganischen bis hinauf zum Menschen als vielfältige Erscheinungsweisen des all-einen Weltwillens betrachtet, wird der einzelne Wille, der ich selber bin, als ein verschwindend kleiner Teil in seiner Einzelheit aufgelöst. Der einzelne Wille ist aber nicht nur winzig. Was er auch immer konkret wollen mag; sein Wollen ist zweitens nur ausgerichtet auf den einzigen Vollzug des blinden Lebenwollens, wodurch er sich den Habitus der Selbsterhaltung und die Energie dazu verschafft. "Die bei weitem meisten Menschen bejahen, wollen auch fortdauernd das Leben: darum ist die Welt da, ...".(20) Angesichts solcher Bedeutungslosigkeit und Blindheit ist Egozentrik ein zweckloses Unterfangen. Schließlich dient diese Betrachtung der Spezies nicht dem Willen selbst. Während der Kontemplation geschieht keine Energiezufuhr für den Willen zum Leben. So hat diese Metaphysik des Willens mit ihrer naturphilosophischen Darstellung mit der ersten, transzendentalkritischen gemeinsam, daß sie den Menschen - in der Kantischen Terminologie gesprochen - zur interesselosen Kontemplation der Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung der anschaulichen Vorstellung (im ersten Buch), der Bedingung der Möglichkeit der anschaulichen Vorstellung selbst (im zweiten Buch) und schließlich zur Reflexion darüber, d. h. über die Bedingung der Möglichkeit der Welt als Vorstellung selbst (im dritten Buch) führt. Die Philosophie wiederholt das Wesen der Welt, d. h. das in der Kontemplation Angeschaute in abstrakten Begriffen. Dieses Philosophieverständnis zeigt, daß die Darstellung der Welt als Wille und Vorstellung (einschließlich der Darstellung der Kontemplation) selbst für Schopenhauer der Vollzug der Kontemplation ist.

Die Metaphysik des Willens, in der die Welt (als Vorstellung) für Schopenhauer sich als Erscheinung des blinden Willens zum Leben darstellt, ist aber ursprünglich nicht etwa als Emanationslehre gedacht. Der Wille fungiert keineswegs als Substanz-Ursache, welche die Welt als Vorstellung aus sich ausfließen läßt. Diese Darstellungsart ist, entstehungsgeschichtlich gesehen, eine nachträglich bildhafte Wiedergabe des auf transzendentalkritischer Ebene gewonnenen Willensbegriffs, formuliert in onto-theo-logischer Sprechweise.(21) Trotzdem ist sie genauso oder sogar besser geeignet, die egozentrische Haltung der Willensbejahung zu stillen. In der Hinsicht ist es auch verständlich, daß Schopenhauer dieser naturphilosophischen Darstellungsform nicht selten eine fast materialistisch wirkende Eigenständigkeit verleiht, deutlich sichtbar in Über den Willen in der Natur (1836).(22)

In 1. haben wir festgehalten, daß die absoute Allmacht und Allwissenheit Gottes u. a. die Unverfügbarkeit der Gesamtdynamik zum Ausdruck bringen. Aus diesem Kontext stellt sich also die Frage, warum der Welt als Erscheinung ein vernunftlos-blinder Wille statt einsichtig-allwissenden Gottes zugrundegelegt werden mußte. Dieses Problem kann man im Hinblick auf die Wechselbeziehung von Metaphysikkritik (2.1) und Metaphysik (2.2) im Schopenhauerschen Denken verständlich machen. Auch wenn die Betrachtung der Welt als stufenweise Objektität des Willens auf der einen Seite zumindest zeitweise den Willen stillegt, läßt sie auf der anderen Seite jene letzte Hoffnung bestehen, selber als Wille an der Unzerstörbarkeit und der zeitlos-ewigen Fortdauer des großen Willens teilhaben zu können. Um dieser Gefahr zu entgehen, bemerkt Schopenhauer, gerade nachdem er den Willen als unser unzerstörbares Wesen an sich bezeichnet hat: "Soweit also ließe sich schon die Unvergänglichkeit unsers eigentlichen Wesens sicher beweisen. Aber freilich wird dies den Ansprüchen, welche man an Beweise unsers Fortbestehens nach dem Tode zu machen gewohnt ist, nicht genügen, noch den Trost gewähren, den man von solchen erwartet."(23) Die Stelle deutet darauf, daß Schopenhauer den in der Metaphysik des Willens verbleibenden letzten Rest der Egozentrik ernst nimmt. Wenn dieser auch verschwinden können soll, dann darf der Wille nicht auf einen subsistenten Willensträger gegründet sein, sondern nur auf sich selbst, d. h. auf seine eigene Selbsterhaltungs- und Selbstgestaltungsdynamik, so wie dies auch Schopenhauers große Zeitgenossen des deutschen Idealismus verstanden haben.

2.3 Die Verneinung des Willens als Kontemplation

In der Metaphysikkritik wie auch in der Metaphysik des Willens ereignet sich die interesselose Kontemplation der Welt, zeitweilig befreit von der Egozentrik des Wollens. Gleichzeitig bleibt in beiden Fällen der Rest des Willens zurück, was meistens unbemerkt den Habitus der Selbstbejahung des Ego fördert - nicht zuletzt dort, wo man sich einbildet, sich endlich von der Egozentrik emanzipiert zu haben. Damit steht Schopenhauer genau vor dem Problem, das Meister Eckhart in seiner Predigt "Der arme Mensch" zum Ausdruck bringt: "Solange ihr den Willen habt, den Willen Gottes zu erfüllen, und Verlangen habt nach der Ewigkeit und nach Gott, solange seid ihr nicht richtig arm. Denn nur das ist ein armer Mensch, der nichts will und nichts begehrt."(24) In dieser äußersten Zurücknahme der Egozentrik zeichnet sich dann folgerichtig das Bild der gänzlichen Verneinung des Willens ab, wo auch diese letzten Überreste des Willens verschwunden sind - quasi das Ideal der Kontemplation, als Gegenstück der absoluten Selbst- und Seinsbestimmung des neuzeitlichen Subjekts. Aus diesem Kontext ist die Bezeichnung des Willens als Ding an sich zu verstehen. Das Ding an sich kann nichts anderes sein als der Wille, dessen Wesen und Dasein einzig und allein in seiner Selbsterhaltung durch Selbststeuerung besteht. Nur dann ist die Aufhebung des Willens in der Komplexität seiner eigenen Selbsterhaltung und Selbststeuerung möglich: Aufhebung, die nicht durch das Wollen hervorgebracht wird - als Absterben des blinden Willens zum Leben.

"Weil nun, wie wir gesehen haben, jene Selbstaufhebung des Willens von der Erkenntniß ausgeht, alle Erkenntniß und Einsicht aber als solche von der Willkür unabhängig ist; so ist auch jene Verneinung des Wollens, jener Eintritt in die Freiheit, nicht durch Vorsatz zu erzwingen, sondern geht aus dem innersten Verhältniß des Erkennens zum Wollen im Menschen hervor, kommt daher plötzlich und wie von außen angeflogen. Daher eben nannte die Kirche sie Gnadenwirkung."(25) Die Aufgabe der Philosophie ist demnach, die Bejahung und die Verneinung des Willens "darzustellen und zur deutlichen Erkenntniß zu bringen, ... nicht aber eine oder die andere vorzuschreiben oder anzuempfehlen."(26) Und dennoch: Diese Darstellung ist ein kontemplativer Vollzug der Erkenntnis. Als Erkenntnis ist sie zwar auf den Willen als transzendentale Bedingung der Möglichkeit des Vorstellens (vor allem bei der Aufmerksamkeit und der Einbildungskraft sowie u. U. bei der interesseorientierten Begriffsbildung) angewiesen. Solange sie aber die Welt als Wille und Vorstellung darstellt, wie sie ist, geschieht, anders als bei dem instrumentalen Gebrauch des Begriffs zwecks des heute immer erfolgreicheren Eingriffs in die natürliche und humane Umwelt, die Energiezufuhr in das Wollen nicht. Damit kann diese Erkenntnis des Wesens der Welt möglicherweise die Selbstaufhebung des Willens einleiten, auch wenn sie diese nicht zum Objekt des Wollens macht. Sie bleibt und beharrt vielmehr in der kontemplativen Wiederholung dessen, was die Welt ist, wie die Bejahung und Verneinung des Willens verstanden werden können. Das war jedenfalls Schopenhauers Verständnis der Philosophie, die er in seinem Jünglingsmanuskript Philosophie als Kunst nannte und von der Philosophie als Wissenschaft unterschied.(27) Genau in dieser Hinsicht ist Halders Reflexion über "Aktion und Kontemplation"(28) , die die vorliegende Abhandlung zum Ausgang nahm, selbst auch als ein Vollzug der philosophischen Kontemplation zu verstehen, die dann in der Frage nach der Optik der Kontemplation im Rückgriff auf die Tradition des Hörens verschärft wurde.(29)

Die neuzeitliche Gesellschaft hat die Bejahung des Willens im Sinne der Selbst- und Seinsbestimmung des Menschen zum obersten Prinzip gemacht. Das Geheimnis der Metaphysikkritik, die Kontemplation, zeigt sich heute nach außen als die Aufhebung der neuzeitlichen Egozentrik, als ein Selbstverzicht ohne Gegenzug mit positiv-greifbarem Gehalt. Im Auge des normativ disziplinierten neuzeitlichen Subjekts bedeutet dies eine unannehmbare Einschränkung seiner Rechte, sogar - wie oft bildhaft und trefflich in der neuzeitlichen Literatur und Kunst dargestellt - ihren eigenen Tod. Und trotzdem, im Zeitalter der ökologischen Krise der natürlichen und humanen Umwelt, fangen wir vielleicht wieder an, danach zu fragen, ob und inwiefern zur Kommunität wie zur Kontemplation ein Selbstverzicht gehört, dessen Umfang nicht autonom oder durch Konsens ausgehandelt werden kann sondern sich nach dem jeweils gelebten neuzeitlich-subjektivischen Habitus der Willensbejahung richten wird.


Anmerkungen:

(1) Wird Prof. Alois Halder, der Autor der eindrucksvollen Abhandlung "Aktion und Kontemplation" (In: Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft, Teilband 8, Freiburg/Basel/Wien 1980, 71 - 98) dieser These aus weiter Ferne zunicken? Meine Erörterung versucht, die Grundhaltung des Denkens, welche er mir während meiner langen und unvergeßlichen Studienjahre in Augsburg vermittelte, experimentierend zuzuspitzen. So versteht diese Abhandlung sich als kleines Zeichen meiner Verbundenheit mit meinem Doktorvater Prof. Halder sowie anderen Augsburgern (von Arno Baruzzis Nachdenken über "Machbarkeit" und Severin Müllers philosophischen Erkundungen von "Arbeit", um nur wenige Stichworte zu nennen), denen ich meine philosophische Sichtweise auch zutiefst verdanke.

(2) Vgl. Carnap, R.: Scheinprobleme der Philosophie (1928), Frankfurt a. M. 1976, bes. 47 - 54 u. f.

(3) Vgl. Habermas, J.: "Technik und Wissenschaft als >Ideologie<. Für Herbart Marcuse zum 70. Geburtstag am 19. VII. 1968", in: Ders.: Technik und Wissenschaft als >Ideologie<. Frankfurt 1969, 54.

(4) In vielen Fällen wurde der Zirkelcharakter des Begründungsverfahrens zum Streitpunkt, entweder in logischer Sicht (Alberts "Münchhausen-Trilemma") als Fehlschluß oder im Blick der Hermeneutik (Gadamers "Wirkungsgeschichte") als nicht ursprünglich genug gedacht, wie die kritische Theorie ihrerseits dem Szientismus und der phänomenologischen Hermeneutik die verdeckte Verschmelzung von Erkenntnis und Interesse vorwarf. Aber wer von uns, im Bannkreis der Onto-Theo-Logie, kann sich vom Sog der vereinnahmenden Geschlossenheit des "légein"[orig. griechisch] emanzipieren? Und doch: Ist die Reflexion über diese essentielle Struktur der neuzeitlichen Metaphysik ohne weiteres gleichbedeutend mit der existentiellen Übernahme derselben?

(5) Vgl. Aristoteles: Metaphysik Buch I , 982b.

(6) Schopenhauer interpretierte die o. g. Stelle von Aristoteles in die Richtung, daß gerade an der Spitze der Vernunft der Mensch zur Verwunderung über den Widerspruch von Sterblich-Sein und Leben-Wollen gelangt. Schopenhauer, A.: Sämtliche Werke. 7 Bde. Wiesbaden, 1972 (=SW), hier: SW 3, 175ff (Kapitel 17): "Ueber das metaphysische Bedürfnis des Menschen", sowie a.a.O. 528f (Kapitel 41): "Ueber den Tod und sein Verhältnis zur Unzerstörbarkeit unseres Wesens an sich".

(7) Aus diesem Gedankengang heraus ist auch die zunächst befremdende Verbindung des metaphysikkritischen, logischen Positivismus und der kontemplativen Haltung des frühen Wittgenstein verständlich. Vgl. Wittgenstein, L.: Tractatus logico-philosophicus: Logisch-philosophische Abhandlung (1921), Frankfurt 1978 (edition suhrkamp 12), insbesondere 111 $BM(B115 (§6.4 $BM(B7).

(8) Gegen eine solche Infragestellung des neuzeitlichen Freiheitsideals werden oft Bedenken geäußert mit dem Hinweis auf die verheerenden Folgen der Totalitarismen im Zweiten Weltkrieg. Selbstverständlich kann man die Tatsache nicht unterschätzen, daß es die einzige geistige Stütze für die war, die das Ende des Schreckens erkämpft haben. Dennoch muß man sich vor dessen bedingungslosen Idealisierung hüten und auf dessen Schattenseite achten, da die Diktatoren eben als Verabsolutierung des neuzeitlichen Subjekts zu begreifen sind, insofern sie die Seinsordnung aus ihrer eigenen Überzeugung und ohne interpersonale wie internationale Rücksichtnahme setzten und durchsetzten. Daß sich systematische Massenmorde ausgerechnet in der Neuzeit ereignet haben und heute noch ereignen - diesen Umstand kann man nicht nur auf die wissenschaftlich-technische Entwicklung zurückführen, vielmehr auf jene neuzeitlich übertriebene Egozentrik des Menschen in allen Lebensbereichen.

(9) R. Wagner: Tannhäuser (Dritter Aufzug. dritter Auftritt). Zit. nach: Wagner, R.: Alle Libretti. Dortmund, 1982, 213.

(10) A.a.O., 214.

(11) Zur Entstehung der Frauenmystik vgl. u. a. Dienzelbacher, P.: Mittelalterliche Frauenmystik. Paderborn 1993, bes. 27 - 46.

(12) Diese Ansicht verdanke ich Prof. Halders Vortrag über Margareta Ebner von Donauwörth (gehalten am 24. Oktober 1991 in Donauwörth im Enderle-Saal im Rahmen der Donauwörther Kulturtage und anläßlich des 700. Geburtstages von Ebner) sowie darauf folgenden Gesprächen. Damit sind die anderen, äußeren Faktoren wie der Einfluß ihres Kreises, insbesondere ihres ambitionierten Ziehvaters Konrad von Marburg, aus ihr eine Heilige zu machen, nicht ausgeschlossen.

(13) Schopenhauer, A.: Der handschriftlicher Nachlaß (=HN). Frankfurt a. M. 1966 ff, I, 465 und SW 2, 457. Zu der Zeit war das Werk noch Tauler zugeschrieben. Seine früheste, schriftlich nachweisbare Erwähnung (1858) hängt mit der Eckhart-Ausgabe von Franz Pfeifer (Leipzig, 1857) zusammen. Er bemerkt u. a.: "Buddha, Eckhart und ich lehren im Wesentlichen das Selbe." (HN IV,29, SW 3, 705). Gleich unten (a.a.O., 706) empfiehlt Schopenhauer dem Leser Montalembert, C. d.: Histoire de Sainte Elisabeth de Hongrie, Duchesse de Thuringe (1207 - 1231). Bruxelles, 1838. (Beide Stellen sind neue Zusätze zur 3. Auflage von Die Welt als Wille und Vorstellung, 1859).

(14) SW 2 , 457.

(15) Nach Schopenhauer "entspringen Bejahung des Willens zum Leben, Erscheinungswelt, Diversität aller Wesen, Individualität, Egoismus, Haß, Bosheit aus einer Wurzel." Vgl. SW 3, 700.

(16) Vgl. erstes und drittes Buch von "Die Welt als Wille und Vorstellung".

(17) Zur Auflösung des Begriffs "Sein" in das Vorstellung-sein und der daraus folgenden Bedeutungsverschiebung des Terminus "besseres Bewußtsein" im Denken des jungen Schopenhauer s. Kamata, Y.: Der junge Schopenhauer: Genese des Grundgedankens der Welt als Wille und Vorstellung. Freiburg i. Br./München, 1988, 119 - 128, 200 - 210 u. a.

(18) SW 2, 486.

(19) Fichte: Sittenlehre (1798), in: Fichtes Werke (hg. v. I. H. Fichte). Ndr. Berlin 1966, IV, bes. 18 - 75. Mit dieser Schrift hat sich der junge Schopenhauer sehr ausführlich befaßt.

(20) HN I, 398.

(21) Hierzu Kamata, Der junge Schopenhauer, 236f, 285f sowie: Ders.: "Die Platonische Idee und die anschauliche Welt", in: Schopenhauer-Jahrbuch 1989, Bd.70, 90.

(22) Yôichirô Takahashi wies in seiner japanischen Abhandlung "Der Willensbegriff bei Schopenhauer in der mittleren und späten Periode seines Denkens" (Titel ins Deutsche übersetzt) in Shôpenhauâ-Kenkyû (Schopenhauer-Studien) Bd. II (1995), 101 - 112 nach, daß trotz der allgemein angenommenen Wende des Schopenhauerschen Denkens von der transzendentalen Willensdeutung zu einem naturwissenschaftlich (physiologisch-psychologisch) orientierten Willensrealismus doch die erstere weiterhin als Grundlage seines Willensverständnisses festgehalten wird.

(23) SW 3, 539.

(24) Meister Eckehart: Deutsche Predigten und Traktate (hg. u. übers. V. J. Quint), München 5. Aufl.1978, 304 (Predigt 32).

(25) SW 2, 478f.

(26) A.a.O., 336

(27) Vgl. Kamata, Der junge Schopenhauer, 225 - 234 (§41).

(28) Vgl. Halder, a.a.O.

(29) A.a.O, 96. Eigentlich hieß in Halders Urfassung die Überschrift des letzten Kapitels provokativ: "Hören statt Sehen".


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