Was lernen wir von der Goldhagen-Diskussion?

Yasuo KAMATA (Japan)

Die bisherigen Diskussionen über Daniel Jonah Goldhagens Buch "Hitlers willige Vollstrecker: ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust" (deutsche Übersetzung: Berlin: Siedler Verlag, 1996) drehten meistens um die Frage, wer für den Völkermord verantwortlich gewesen sei: Hitler und die Nazis mit ihrem Propaganda und ihrem Zwang oder die ganz gewöhnlichen Deutschen mit ihrem "eliminatorischen Antisemitismus"? So trägt beispielsweise die von Julius H. Schoeps herausgegebene, unmittelbar nach der deutschen Übersetzung erschienene Dokumentaionssammlung den provokativen Titel "Ein Volk von Mördern?" (Hamburg: campe paperback, 1996) Auch viele in DIE ZEIT veröffentlichte Leserbriefe scheinen diese Tendenz zu bestätigen. Hinter dieser Frage verbirgt sich eine tiefere Fragedimension, die von uns eine grundsätzliche Stellungnahme zur Bedeutung und Reichweite der politischen Freiheit verlangt. Denn wenn jeder einzelne (zurechnungsfähige) Mensch in der Lage sein sollte, nach seiner eigenen Überzeugung politisch zu handeln, wie es auch das deutsche Grundgesetz formell erklärt, dann ist jeder Deutsche, der damals keinen aktiven Widerstand geleistet hat, mitschuldig am Völkermord. Um diesem Argument Nachdruck zu verleihen, versucht Goldhagen, u. a. in seinen umfangreichen Fallstudien über das Polizeibataillon 101, nachzuweisen, daß in vielen Fällen die Deutschen die Juden töteten, "obwohl sie es nicht mußten" (vgl. Goldhagen, a. a. O. S.328 ff).

Während dieser klassische Formalismus im Sinne der Individualethik unter vielen Angloamerikanischen Intellektuellen verbreitet zu sein scheint, neigen die kontinentaleuropäischen Gelehrten oft dazu, in einem viel größeren Maße die wechselseitige Einflußnahme von Gesellschaft und Individuum als die eigentliche geschichtliche Dynamik zu berücksichtigen. In dieser Sicht mag der amerikanische Formalismus allzu naiv erscheinen, zumal der blanke Individualismus seit der Mitte des 19. Jahrhunderts verschiedene soziale Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten erzeugte und somit den Grundbestand der Freiheit selbst zu gefährden schien.

Aber genau diese Abkopplung von den gesellschaftlichen Zwängen und die uneingeschränkte Verwirklichung der individuellen Freiheit in der Politik war die Grundidee, die zur Gründung der USA führte und den US-Amerikanern in Fleisch und Blut überging. Hier könnte man wieder einmal den Spieß umdrehen und sagen, daß der Gedanke der Interaktion von Individuum und Gesellschaft den absoluten Vorrang der individuellen Freiheit relativiert und damit das die Demokratie tragende Verantwortungsbewußtsein des Individuums schwächt. Das ist das Kernstück von Goldhagens "Erkenntnisinteresse". Nur aus diesem Kontext heraus ist verständlich, warum er auf der einen Seite behauptet, daß "die Vernichtung der Juden ohne die Beteiligung einer großen Zahl von Menschen, die aus allen Schichten der deutschen Gesellschaft stammten, nicht möglich gewesen (wäre)" (Der Spielgel, Nr.33/1996, S. S.50) und es doch auf der anderen Seite mehrfach ablehnt, von der Kollektivschuld der Deutschen zu sprechen. Sein Interesse gilt auch hier einzig und allein der Aufrechterhaltung des liberalistischen Prinzips der politischen Freiheit und der individuellen Verantwortlichkeit. Sein ganzes Buch ist von diesem Sendungsbewußtsein durchdrungen. Auf die Frage, ob und inwiefern diese Tendenz gerade im allgemeinen durch den gegenwärtign Zerfall jener Grundidee in der US-Amerikanischen Gesellschaft und im besonderen durch die persönliche Anstrengung Goldhagens, sich als die zweite Genertion, d.h. als Nachzügler in der US-Amerikanischen Welt, so schnell wie möglich als den genuinen US-Amerikaner psychisch wie sozial zu identifizieren, verstärkt worden sei, können wir hier nicht eingehen.

Selbstverständlich gibt es auch eine andere Sichtweise, die in der modernen Gesellschaft (und in den Sozialwissenschaften) immer mehr an Bedeutung gewann: eine ganzheitliche Sichtweise im Gegensatz zu dem reduktionalistischen Monokausalismus der individuellen Freiheit, politisch vertreten u.a. durch die ökologischen Strömungen sowohl in den neuen als auch in den etablierten Parteien. Man könnte fast (und leider gefährlich pauschalisierend) behaupten: Die USA konnten sich die "Reinzucht" der individuellen Freiheit leisten, da sie längst unabhängig waren, während in Europa seit Mitte des 19. Jahrhunderts der Zweifel an der nackten bürgerlichen Freiheit verschiedene sozialistische und sozialdemokratische Bewegungen hervorrief. Ein Jahrhundert später erleben wir sogar die verheerenden Folgen des Freiheitskults in der Vereinsamung des Menschen und in der Umweltverschmutzung.

In Europa, wo die verschiedensten Interessen ständig miteinander kollidierten, mußte man lernen, und wird man weiter lernen müssen, wie wichtig es ist, den Sinn für die Kommunität - nicht nur in den wirtschaftlichen und politischen Bereichen - zu pflegen. Dieses von der US-Amerikanischen Tradition abweichende politische Ideal ist auch in der historischen Theoriebildung zu beobachten, und wer sich mit der neueren Geschichte Westeuropas beschäftigt, sollte diese besondere Lage berücksichtigen. Von hier aus wird auch der prinzipielle Unterschied zwischen der deutschen und US-amerikanischen Sozialpolitik verständlich.

Soweit ist nun klar: Es kann nicht das Ziel der Goldhagen-Diskussion sein, pauschal bestimmen zu wollen, ob die ganz gewöhnlichen Deutschen für den Judenmord verantwortlich waren oder nicht. Mit den Einzelfällen soll sich weiter das Gericht beschäftigen. Wir haben gesehen, daß die unterschiedlichen Sichtweisen bei Goldhagen und seinen Kritikern ihre je eigene, kontextuelle und situative Berechtigung haben. Diese so wichtige Diskussion sollte weder in den emotionsbeladenen Unterstellungen noch in ausweglosen Geschicklichkeitsübungen der Debattentechnik enden. Wir müssen fragen und aus ihren unterschiedlichen Problemerfahrungen heraus verstehen, was ihre Hauptthesen sind. Wir könnten unsere Fragen so umformen: Was wollen Goldhagen und seine Kritiker mit ihren Behauptungen vermeiden?

Wir haben bereits oben gesehen, daß es Goldhagen darum ging, das historische Verantwortungsbewußtsein wach zu halten. Er will daher vermeiden, daß die Verantwortlichkeit des individuellen Menschen in der Propagandapolitik der Nazis oder in der unpersönlichen Kollektivschuld verschwindet. Jedes noch eintretendes historisches Ereignis gehört, zumindest auf der Ebene der politischen Willensbildung und Entscheidung, ins Reich der Freiheit, auch wenn es, einmal geschehen, sofort in ein historisches Fossil verwandelt wird, in dem die Wissenschaftler eifrig nach Dispositionen und Sachzwängen suchen.

Um zu verstehen, was die Menschen damals wirklich dachten, wollten und fühlten, muß man sich vor jeder Vereinfachung hüten. Hier braucht man statt eines simpel-monokausalen und sensationell wirkenden Erklärungsmodells eine ganzheitliche und ausgewogene Haltung. Dies verlangt die wissenschaftliche Redlichkeit, die aber wiederum nicht ohne weiteres mit der politischen Wertung verwechselt werden darf. Für diese ist wichtig, daß jeder einzelne im Blick auf die Zukunft ernsthaft nachdenkt, was geschehen soll und was nicht, da dies der elementare Baustein unserer demokratisch-politischen Willensbildung ist. Goldhagen kennt offenbar schon das Problem. Seine wiederholte Mahnung an die jungen Deutschen, "sich nicht mehr gepeinigt (zu) fühlen" bezeugt sein Sendungsbewußtsein, die Geschichtsschreibung sollte der Zukunft dienen. Stimmt diese Goldhagen-Interpretation, so sollten wir, trotz der politischen und moralischen Notwendigkeit, nach dem Verantwortlichen zu suchen, uns zugleich der Gefahr bewußt bleiben, wenn wir die zukunftsgerichtete Wertschätzung auf die Vergangenheit übertragen, damit wir nicht den irrationalen Hexenverfolgungen und Inquisitionen freien Lauf lassen. Selbstverständlich kann man über Goldhagens Haltung als Wissenschaftler streiten, aber es gibt vieles, was wir - damit sind nicht nur die Deutschen, sondern auch die Japaner gemeint - von seinem Buch und der Goldhagen-Diskussion lernen können. (Berlin, Juli 1996)

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