Platonische Idee und die anschauliche Welt
bei Schopenhauer *



Yasuo Kamata


  1. Von dem scheinbaren Widerspruch der Schopenhauerschen Ideenlehre in Die Welt als Wille und Vorstellung (1818/1819)

  2. Schopenhauers Studienzeit und Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde (1813): die Grundstruktur der Erfahrung

  3. Dresdner Zeit: Schopenhauers Ideenlehre als Weiterführung seiner transzendentalphilosophischen Grundposition

  4. Zusammenfassung




I

Von dem scheinbaren Widerspruch der Schopenhauerschen Ideenlehre

in Die Welt als Wille und Vorstellung (1818/1819)


Der Titel der folgenden Überlegungen lautet: Platonische Idee und die anschauliche Welt. Wir fragen nach dem Verhältnis der anschaulichen Welt, die wir konkret erfahren, zu der Platonischen Idee. Viele von Ihnen werden sich wundern, daß ich ausgerechnet über das Thema sprechen will, das eigentlich jedem klar ist. Schopenhauer sagte in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung zur Platonischen Idee: Der Wille ist "das Ding an sich, die Idee aber die unmittelbare Objektität jenes Willens auf einer bestimmten Stufe"(1). Oder: Die Platonische Idee "hat bloß die untergeordneten Formen der Erscheinung, welche alle wir unter dem Satz vom Grunde begreifen, abgelegt, oder vielmehr ist noch nicht in sie eingegangen ..."(2) Die Idee ist demnach die erste Stufe der Erscheinung des Willens. Dort nimmt der blind-gestaltlose Wille, das Ding an sich, zuerst die Grundform der Vorstellung: Objekt-für-ein-Subjekt-Sein an und geht in sie ein, kommt zur Erscheinung. Die Idee ist das ewige, unwandelbare Urbild einer Spezies, z.B. des Kristalls, der Tulpe, des Eichhörnchens oder eben des Menschen. Wenn die Ideen, als die erste Stufe der Erscheinung des Willens, die weiteren, untergeordneten Formen der Erscheinung annehmen, d.h. wenn sie dem Satz vom zureichenden Grund unterworfen sind, erscheinen sie als die einzelnen, raum-zeitlich bedingten Dinge. Diese Erscheinungen sind die unvollkommenen und vergänglichen Nachbilder jener ewigen Urbilder. Sie machen insgesamt die anschauliche Welt aus, die wir gewöhnlich objektive reale Welt nennen. Da erst durch den Satz vom Grund die Individualitäten entstehen, da erst durch den Satz vom Grund die ewigen Ideen gleichsam in die vergänglichen Gestalten zersplittert werden, nennt Schopenhauer den Satz vom Grund - in Anlehnung an die Scholastik - principium individuationis, das Individuationsprinzip.

Es ist überzeugend, ja allzu überzeugend, das Verhältnis von der Platonischen Idee und der anschaulichen Welt zueinander ausschließlich nach dem Urbild-Abbild-Schema darzulegen und den Satz vom Grund als Band und Übergangsstelle zwischen beiden herauszustellen. Wenn wir uns aber auf diesen bewährten Interpretationsrahmen stützen, um das ganze Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung einheitlich zu interpretieren, kommen wir oft in Verlegenheit.

Wir nehmen z.B. Schopenhauers Kunsttheorie. Es wird auf der einen Seite gesagt:

    "Sie [die Kunst] wiederholt die durch reine Kontemplation aufgefaßten ewigen Ideen, das Wesentliche und Bleibende aller Erscheinungen der Welt, und je nachdem der Stoff ist, in welchem sie wiederholt, ist sie bildende Kunst, Poesie oder Musik."(3)
Die Schönheit eines Kunstwerkes besteht in seiner Urbildlichkeit für die einzelnen Erscheinungen, in seiner Urphänomenalität. Die Idee der Dinge ist eben, anders als der abstrakte Begriff, kein willkürliches Produkt der Menschen, sondern die Erscheinung des all-einen Willens. Der Künstler kann sie nicht willkürlich konstruieren, sondern nur in konkreten Kunstwerken wiederholen.

Wenn man aber Die Welt als Wille und Vorstellung sorgfältig liest, stößt man auch auf die Stellen, die gerade diesem Ideenverständnis zu widersprechen scheinen. In der Schopenhauerschen Kunsttheorie wird nicht nur von der künstlerischen Wiederholung (Abbildung) der Platonischen Idee, sondern auch von der Antizipation, von der Vorwegnahme der Idee durch den Künstler gesprochen, "daß er, indem er im einzelnen Dinge dessen Idee erkennt, gleichsam die Natur auf halbem Worte versteht und rein ausspricht, was sie nur stammelt, daß er die Schönheit der Form, welche ihr in tausend Versuchen mißlingt, dem harten Marmor aufdrückt, sie der Natur gegenüberstellt, ihr gleichsam zurufend: 'Das war es, was du sagen wolltest!' und 'Ja, Das war es!' hallt es aus dem Kenner wider"(4). Der Künstler ist es also, der die noch nicht realisierte Idee als das "Ideal" vollendet. Ist also die Platonische Idee nicht doch ein Produkt des Menschen?

Diese Vermutung wird durch andere Äußerungen Schopenhauers selbst verstärkt. Gegen Ende des 1. Buchs finden wir nämlich einen rätselhaften Satz: "Die Platonische Idee, welche durch den Verein von Phantasie und Vernunft möglich wird, macht den Hauptgegenstand des dritten Buchs gegenwärtiger Schrift aus."(5)

Schopenhauer hat zwar in Die Welt als Wille und Vorstellung eine Antwort parat, indem er sagt, daß derselbe Wille, der seine Objektität auf der höchsten Stufe erkennen will, eben wir selbst seien.(6) Diese Antwort gehört zum Problemkreis der Analogie des Willens. Durch sie soll die Identität von Individualwille und Weltwille nachgewiesen werden. Weil der Künstler selbst im Grunde von demselben Willen herkommt wie die Natur, ist es gar nicht verwunderlich, daß der Künstler die Idee erfassen kann.

Wir sehen hier zunächst ganz davon ab, daß diese Erklärung transzendentalkritisch keine Antwort auf die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit der Antizipation der Idee gibt; dieser Gedanke des all-einen Willens taucht, entwicklungsgeschichtlich gesehen, zum ersten Mal Ende 1814 auf.(7) Der Analogieschluß des Willens wird sogar viel später, im Jahr 1816, formuliert.(8) Dagegen steht die Grundkonzeption der Ideenlehre - vor allem im Hinblick auf ihr Verhältnis zur anschaulichen Welt - ,wie sie ins Hauptwerk aufgenommen wird, bereits im Frühsommer 1814 fest, und zwar als die Weiterführung der in der Dissertation Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde behandelten Probleme. Und dort ist auch jener scheinbare Widerspruch zu beobachten.

In einem aus dieser Zeit stammenden Fragment ist das Ideenverständnis zu finden, das sich später in dem oben genannten Gedanken der künstlerischen Antizipation der Platonischen Idee sowie in der Herkunft der Platonischen Idee aus der Zusammenwirkung von Einbildungskraft und Vernunft verdichten wird:

    "Die P1atonische Idee ist eigentlich ein Phantasma in Gegenwart der Vernunft. Sie ist ein Phantasma dem die Vernunft das Siegel ihrer Allgemeinheit aufgedrückt hat; ein Phantasma bei dem sie spricht: 'so sind alle', d.h. 'das worin dieser Repräsentant seinem Begriff nicht adäquat ist, ist nicht wesentlich'. Die Platonische Idee entsteht also durch die vereinte Tätigkeit der Phantasie und der Vernunft."(9)
Die Platonische Idee ist also ein Phantasma, das Produkt der Einbildungskraft. Sie ist zwar kein Gegenstand der Erfahrung, aber als Phantasma ist sie durch und durch eine Vorstellung. Hier ist nicht davon die Rede, daß die Platonische Idee die erste Erscheinungsweise des Willens sei. Sie hat vielmehr ihren Ursprung in der anschaulichen Welt. Aber auch in dieser Zeit spricht er mehrfach von den Ideen, sie seien das wahre Wesen der Welt, die ewigen Formen und wirklich seiend, im Gegensatz zu den 'sinnfälligen', endlichen Dingen, die nur zu sein scheinen.(10)

Dieses zweifache Ideenverständnis gehört also offenbar wesentlich zu Schopenhauers Philosophieren. Es wäre zu leicht gemacht, wenn wir Schopenhauer Inkonsequenz unterstellten und seine Philosophie als "geniales, buntes Mosaikwerk" (Windelband) bezeichneten, wenn wir diese scheinbaren Widersprüche auf seinen angeblich krankhaften Geisteszustand zurückführten (Haym) oder nur das eine der beiden Momente hervorhöben und das andere als einen belanglosen Schönheitsfehler erledigten.

Statt dessen wollen wir im folgenden untersuchen, wie sich Schopenhauers Ideenlehre nach der Abfassung seiner Dissertation herausbildet.



II

Schopenhauers Studienzeit und Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde (1813): die Grundstruktur der Erfahrung


Schopenhauer hatte zwei Lehrer in Philosophie. Noch in Göttingen als Medizinstudent wurde er von G. E. Schulze in die Philosophie eingeführt. Er beschloß, seinen Studienschwerpunkt auf Philosophie zu verlegen und ging 1811 nach Berlin, um Fichte zu hören. Als Kriegsgefahr drohte, verließ Schopenhauer Berlin und zog sich nach Rudolstadt zurück, um die Dissertation zu Ende zu schreiben. Im Oktober 1813 erlangte er an der Universität Jena den Doktorgrad.

Schopenhauers Denken war in der Göttinger Zeit noch stark durch das traditionell-metaphysische Interesse an dem Unendlichen bzw. dem Göttlichen bestimmt. In der Berliner Zeit tritt dagegen ein anderer Gedanke hinzu: der Gedanke der durchgängigen Einheit des Bewußtseins. Diese neue Position faßt das Sein als Objekt-für-ein-Subjekt-Sein auf.(11) Demnach kann von dem Sein eines Objekts nur gesprochen werden, sofern dieses im Verhältnis zu einem Subjekt steht, d.h. Vorstellung ist. Sein heißt also Vorstellung-Sein, und Vorstellung-Sein heißt Objekt-für-ein-Subjekt-Sein. Dem Objekt ohne Bezug auf das Subjekt, d.h. wie es an sich ist, oder dem Ding an sich, kommt kein Sein zu. Wenn auch diese konsequente Bewußtseinsimmanenz Schopenhauer überzeugend erscheint, konnte er dennoch nicht leicht seine brennende Sehnsucht nach dem Unendlichen aufgeben. Sie wird in der Berliner Zeit u.a. auf den Nenner "besseres Bewußtsein"(12) gebracht. Das bessere Bewußtsein steht in einem Spannungsverhältnis zur Position des Vorstellungseins und wird bis in den Anfang der Dresdner Zeit durchgehalten, bis es, abgeschwächt und bedeutungsverschoben, Ende 1814 endgültig aus seinem Manuskript verschwindet.

Die 1813 entstandene Dissertation Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde(13) kann als Versuch betrachtet werden, alles, was ist, von der Position des Vorstellungseins aus durchgängig darzustellen.

    "Unser Bewußtseyn, so weit es als Sinnlichkeit, Verstand, Vernunft erscheint, zerfällt in Subjekt und Objekt, und enthält, bis dahin, nichts außerdem. Objekt für das Subjekt seyn, und unsre Vorstellung seyn, ist dasselbe.(...) Aber nichts für sich Bestehendes und Unabhängiges, auch nichts Einzelnes und Abgerissenes, kann Objekt für uns werden: sondern alle unsre Vorstellungen stehn in einer gesetzmäßigen und der Form nach apriori bestimmbaren Verbindung. "(14)

Wenn das Sein jeglicher Substanz außerhalb des Bewußtseins (das Ding an sich) ausgeschaltet wird und alles Seiende bewußtseinsimmanent, d.h. als Subjekt und Objekt des Vorstellens innerhalb des Bewußtseins, betrachtet wird, stellt sich die Frage, wie die empirische Erkenntnis verstanden werden soll. Schopenhauer unterscheidet zwischen den zwei Momenten der Erfahrung(15): Das eine ist die unmittelbare Gegenwart der deutlichen Vorstellung. Sie ist die Vorstellung eines Objekts in seiner Einheit. Sie kann zusammengesetzt und von unterschiedlichem Umfang sein. Das andere Moment ist die Vorstellung des Erfahrungsganzen (die Gesamtvorstellung), die den Hintergrund der unmittelbar-gegenwärtigen Vorstellung ausmacht.

Dem Bewußtsein kann nur eine deutliche Vorstellung auf einmal gegenwärtig sein. Denn nach der Kantischen Tradition "ist die Zeit eine Bedingung a priori aller Erscheinung überhaupt"(16). Es wird eine deutliche Vorstellung nach der anderen gegenwärtig. Es ist nicht möglich, daß mehrere deutliche Vorstellungen auf einmal gegenwärtig sind. Ob eine Vorstellung eine Wahrnehmung und keine Erinnerung noch Einbildung ist, wird in objektiver Hinsicht daran gemessen, ob die jeweilige Vorstellung mit der Vorstellung des Ganzen der Erfahrung verknüpft und darin integriert werden kann oder nicht. Ferner ist eine Vorstellung in subjektiver Hinsicht dem Bewußtsein unmittelbar gegenwärtig, wenn sie in bezug auf den eigenen Leib, gleichsam in einem Koordinatensystem der Erfahrung steht, dessen Nullpunkt der Leib (unmittelbares Objekt) ist. Vereinfacht gesprochen: Wenn eine Vorstellung in den Kontext des durch den eigenen Leib vermittelten Erfahrungsganzen hineinpaßt, dann wird sie als Gegenstand der Erfahrung identifiziert. Gleichzeitig wird sie in diese Gesamtvorstellung hineingenommen, und so erfüllt sich die Gesamtvorstellung. Dieses Zusammenspiel der zwei Momente, der unmittelbaren Gegenwart der deutlichen Vorstellung und der Gesamtvorstellung als Hintergrund, macht die Grundstruktur der Erfahrung aus, und die Ordnung (die formale Bedingung der Möglichkeit) dieses Zusammenspiels ist die Kausalität. Kausalität besagt, daß der Zustand der räumlich konstituierten Gesamtvorstellung sich mit der Zeit ändert.

Eine derartige Definition der Erfahrung weicht vom gewöhnlichen Verständnis derselben ab. Die Vorstellung wird nämlich meistens als Abbild verstanden, das das Subjekt von dem 'äußeren' Objekt empfängt. Wenn man ein solches Ding an sich außerhalb des Bewußtseins voraussetzte, könnte man leicht die Identität des Objekts (Einheit und Unwandelbarkeit) nachweisen. Für den Kant-Anhänger Schopenhauer ist es allerdings nicht zulässig, von einer derart naiven Voraussetzung auszugehen. Wenn man aber die Identität des Objekts von der Einheit des Selbstbewußtseins abhängig machen will, stellt sich die Frage, ob alles der Willkür des Subjekts preisgegeben würde, wie dann die Einheit und Stabilität der Erscheinung bewahrt würden. Gerade darin zeigt sich, was der Sinn der Annahme des Dings an sich ist: Nämlich nicht, daß das Ding an sich außerhalb des Bewußtseins vorhanden ist, sondern die Gewährleistung der Identität des Erfahrungsobjekts sowie der Einheit der Erscheinungswelt.

Im inneren Sinn des Bewußtseins ist kein Zugleichsein mehrerer deutlicher Vorstellungen möglich. Sie sind dem Bewußtsein unmittelbar gegenwärtig, aber stets vereinzelt und flüchtig. Dagegen ist die Vorstellung des Erfahrungsganzen zwar in der Regel nicht unmittelbar gegenwärtig, sondern bleibt eben hintergründig-inaktual. Aber sie behält ihre Identität bei und gibt sich als etwas Bleibendes. Nun wird das, was beharrt, was subsistiert, in der abendländischen Denktradition als etwas 'Reales', als Substanz verstanden. So sagt also Schopenhauer, daß die angeblich außerhalb des Bewußtseins real seienden Dinge (die sogenannte objektive reale Welt) in Wahrheit nur die hintergründig-inaktualen Vorstellungen sind, die im Netzwerk des Erfahrungsganzen integriert sind und deshalb eine gewisse Stabilität und Kontinuität aufweisen.

Schopenhauers Unterscheidung zwischen der dem Bewußtsein unmittelbar gegenwärtigen Vorstellung und der inaktualen Vorstellung hatte also die Absicht, die Identität, d.h. die Stabilität und Allgemeinverbindlichkeit der Erfahrung und der Erscheinungswelt für das erkennende Subjekt nachzuweisen, ohne außerhalb des Bewußtseins ein Ding an sich vorauszusetzen. Wenn dies gelingen sollte, gäbe es keinen philosophisch zwingenden Grund mehr, vom realen Objekt außerhalb des Bewußtseins zu sprechen.



III

Dresdner Zeit: Schopenhauers Ideenlehre als Weiterführung seiner transzendentalphilosophischen Grundposition


Mit seiner Dissertation Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde konnte Schopenhauer den Grundrahmen seiner Position des Vorstellungseins zeichnen. Er konnte die Identität der Erfahrung bzw. der Erscheinungswelt als das Zusammenspiel der beiden voneinander abhängigen Momente, nämlich der unmittelbar gegenwärtigen Vorstellung und der inaktualen Gesamtvorstellung nachweisen, und die Ordnung der Erscheinungswelt als Kausalität ermitteln.

Es bleiben aber noch zwei wichtige Probleme ungelöst:

1) Die Bedingung der Möglichkeit der ursprünglichen Synthese einer deutlichen Vorstellung, mit anderen Worten: die Bedingung der Möglichkeit, daß die dem Bewußtsein unmittelbar gegenwärtige Vorstellung ihre eigene, einheitliche Gestalt erhält und beibehält. Warum stellen wir uns z.B. einen Baum immer vor als eine Einheit von Stamm, Asten, Zweigen, Blättern, Blüten, Früchten, ferner unsichtbaren Wurzeln? Warum betrachten wir die Erde, in der er wurzelt, oder das Vogelnest nicht als Bestandteil des Baums? Warum stellen wir uns umgekehrt die Blätter nicht als etwas Zufälliges vor, wie Insekten oder Vögel, die am Baum sitzen?

2) In der Dissertation war von der Einheit und Stabilität der Erfahrung für das einzelne Subjekt die Rede. Daß diese Einheit und Stabilität nicht nur für das einzelne Subjekt gelten, sondern auch für andere Menschen allgemeinverbindlich sind, diese Identität der Erkenntnisgemeinschaft setzt Schopenhauer einfach voraus, indem er von der "uns allen gemeinschaftlichen Totalvorstellung einer Erfahrung"(17) spricht.

Die Herausbildung der Ideenlehre unmittelbar nach Schopenhauers Übersiedlung nach Dresden sollte verstanden werden als die Antwort auf die eben genannten, in seiner Dissertation noch nicht erörterten zwei Fragen. Auch diese Fragen wären leicht zu beantworten, wenn man, wie bereits gesehen, außerhalb des Vorstellungsbereichs das Ding an sich voraussetzte. Zwar mußte man dessen Vorhandensein voraussetzen, um die Identität und Allgemeinverbindlichkeit der Welt sicherzustellen. Aber Schopenhauer hält an seiner Position des Vorstellungseins fest.

In der abendländischen Philosophiegeschichte gibt es ein bedeutendes Modell, die Identität und Allgemeinverbindlichkeit der Welt zu erklären. Es ist die Tradition der Platonischen Ideenlehre, die auch in die christliche Religion eingegangen ist. Die Idee ist demnach das übersinnliche Urbild der Dinge, sie ist göttlichen Ursprungs. Was wirklich existiert, ist diese göttliche Idee. Ein solches Ideenverständnis ist auch beim jungen Schopenhauer der Göttinger Zeit zu beobachten. Die Ideen würden uns von Gott entweder unmittelbar oder durch die Sprache der Natur mitgeteilt. Dagegen sind die einzelnen Objekte, die wir mit unseren Augen sehen, bloß unvollkommene Abbilder jenes Urbildes, der göttlichen Idee, die bei der Schöpfung der Gattung in der Gottheit gelegen hat.(18)

Nun kann Schopenhauer aber kein über den Bewußtseinsbereich hinausgehendes göttliches Wesen dogmatisch voraussetzen. So bildet er die traditionelle Ideenlehre auf der Ebene des Vorstellungseins um.

Auf der Ebene des Vorstellungseins - bedeutet: nichts außerhalb des Bewußtseins vorauszusetzen, sondern alles, was ist, als Vorstellung in der durchgängigen Einheit des Bewußtseins aufzufassen. Die Idee auf der Ebene des Vorstellungseins umzudeuten, bedeutet also, die Idee auch als Vorstellung konsequent darzustellen und ihr Verhältnis zur Welt als Vorstellung herauszustellen. Nun können unter den anschaulichen Vorstellungen nur die einzelnen Objekte der Erfahrung dem Bewußtsein unmittelbar gegeben werden. Die Ideen sind zwar anschauliche Vorstellungen, aber nicht in einem bestimmten Augenblick dem Bewußtsein unmittelbar gegeben, zumal sie keinen Bezug zum Leib haben. Sie sind die von der Einbildungskraft reproduzierten bzw. zusammengesetzten Vorstellungen, eben Phantasmata. Diese Idee muß aber zugleich die Bedingung der Möglichkeit der synthetischen Einheit und Stabilität der einzelnen Erfahrungsobjekte (Vorstellung) sein: Die Platonische Idee wäre folglich dasjenige Phantasma unter vielen, von der Einbildungskraft hervorgebrachten Phantasmata, das die Vernunft als Urbild der einzelnen Erfahrungsobjekte hat gelten lassen. So bezeichnet Schopenhauer die Platonische Idee im gedanklichen Anklang an Kants "ästhetische Normalidee" als "Normalanschauung".(19) Genau dies besagt jener rätselhafte Satz, den wir am Anfang zitiert haben, Phantasie (Einbildungskraft) und Vernunft seien die Bedingungen der Möglichkeit der Platonischen Idee.(20)

Diese Auffassung der Platonischen Idee stimmt nicht mit der gängigen, uns vertrauten Ideenlehre Schopenhauers überein. Hat Schopenhauer dann dieses Ideenverständnis aus dem Jahre 1814 noch einmal geändert? Dann hätte er den oben zitierten, rätselhaften Satz gar nicht ins Hauptwerk aufzunehmen brauchen. Die Tatsache, daß Schopenhauer aber diesen scheinbaren Störfaktor im Hauptwerk behalten hat, zeigt gerade, daß er ein wesentliches Element seiner Ideenlehre ausmacht. Unsere nächste Aufgabe wäre dann zu zeigen, wie die beiden Ideenverständnisse miteinander vereinbart werden können.

Zu diesem Zweck müssen wir uns allerdings kurz auf die Problematik des Willens einlassen, und zwar beschränkt auf ein Problem. Es wird aber bereits angedeutet, daß auch der Willensbegriff einer erheblichen Uminterpretation bedarf. Schopenhauer faßt die Einbildungskraft als die Einwirkung des Willens auf das Vorstellungsvermögen auf.(21) Der Wille ist hier als transzendentale Bedingung der Möglichkeit der Vorstellung gedacht. Er ist kein substantial aufgefaßter all-einer Wille. Eine solche naturphilosophisch-pantheistische Willensdeutung kommt später. Es gilt hier also die Übergangsmöglichkeit von der transzendentalen zur naturphilosophischen Willensdeutung aufzuzeigen.

Wenn die Einbildungskraft die Einwirkung des Willens auf das Vorstellungsvermögen ist, dann ist an der Entstehung und Beibehaltung der Platonischen Idee (des als allgemein anerkannten Phantasmas) eben der Wille wesentlich beteiligt, der Wille freilich, sofern er als die Bedingung der Möglichkeit des Vorstellens betrachtet wird. Hier zeigt sich, wenn auch noch in der transzendental-kritischen Sprache, bereits die Gedankenreihe: Wille (seine Einwirkung auf das Vorstellungsvermögen) - Platonische Idee (als Phantasma) - die einzelnen Erfahrungsobjekte (an der platonischen Idee als Normalanschauung ausgerichtet). Wenn man diese Gedankenreihe nun als einen genetischen Prozeß umdeutet und in die traditionell-metaphysische bzw. religiöse Sprache des Abendlandes übersetzt, erhält man den uns bekannten Interpretationsrahmen der Willensmetaphysik: Wille als der gestaltlose, all-eine Weltgrund - die Platonische Idee als die erste Objektivation des Willens - die einzelnen anschaulichen Objekte als Erscheinung des Willens auf der zweiten Stufe.

Kehren wir zu unserem Problem der Platonischen Idee zurück, so können wir aus den bisherigen Überlegungen jetzt jene scheinbar sich widersprechenden Gedankenmomente der Ideenauffassung im Horizont des bewußtseinsimmanenten Vorstellungseins einheitlich interpretieren. Sofern nämlich die Platonische Idee ein Phantasma ist, entstammt sie der anschaulichen Welt. Und dennoch fungiert sie als Urbild der einzelnen Erfahrungsobjekte, da deren synthetische Einheit nur an ihr gemessen wird. Die einzelne anschauliche Vorstellung ist also stets als Abbild jener Idee identifizierbar. Dieses Zusammenspiel von Platonischer Idee und der einzelnen anschaulichen Vorstellung macht also die Welt als Vorstellung aus. Sie beide als Vorstellungen konstituieren die Welt als Vorstellung im Blick auf die Identität und Stabilität der deutlichen Vorstellung. Die Welt als Vorstellung besteht im ursprünglich-wechselseitigen Verhältnis von der Platonischen Idee und den konkret-einzelnen anschaulichen Vorstellungen. Diese Wechselseitigkeit kann als zwei sich ergänzende Bewegungen verdeutlicht werden, erstens von der Idee als Urbild zu den einzelnen, anschaulichen Vorstellungen als Abbilder und zweitens von diesen anschaulichen Vorstellungen als den dem Bewußtsein unmittelbar gegenwärtigen Vorstellungen zur Idee als Phantasma, das durch die Einbildungskraft hervorgebracht und von der Vernunft als allgemeiner Maßstab für die Identifizierung der einzelnen anschaulichen Vorstellung anerkannt wird. Mit diesem Ideenverständnis kann nun jene zweite Frage nach der Bedingung der Möglichkeit der Identität der Welt als Vorstellung für das allgemeine Subjekt zugleich beantwortet werden. Die Platonische Idee ist ein Phantasma, also losgelöst von der konkret raum-zeitlichen Bestimmtheit (Individualität) und damit von der Leibgebundenheit. Deshalb kann sie das Objekt der interesselosen Kontemplation, das Objekt für das Subjekt des reinen Erkennens werden. Die Idee ist Urbild, aber aufgrund ihres ursprünglich-wechselseitigen Verhältnisses zur einzelnen Vorstellung zugleich die Aufbewahrung der vergänglich-vergangenen Erkenntnisse der anschaulichen Welt, welche Erkenntnis ihrerseits wieder der Platonischen Idee bedurfte. Dieses Nichtvergehen, gleichsam die Ewigkeit der Idee kann nicht mehr auf der Ebene des einzelnen Bewußtseins eingeholt werden, sondern erst auf der Ebene des allgemeinen Bewußtseins, in dem das einzelne Bewußtsein zu sich selbst kommt. Das einzelne Bewußtsein wird erst dadurch, daß es sich diese Urbilder aneignet; in der traditionell-platonistischen Sprache: dadurch, daß es sich dieser ewigen Urbilder erinnert.



IV

Zusammenfassung


In diesen Überlegungen haben wir erstens versucht, die Grundstruktur der Erfahrung beim jungen Schopenhauer im Blick auf ihre Einheit und Stabilität darzulegen als das durch den Leib vermittelte Zusammenspiel zweier Momente, nämlich der unmittelbaren Gegenwart der deutlichen Vorstellung und der Vorstellung des Erfahrungsganzen (der Welt für das einzelne Subjekt) als des inaktualen Hintergrundes der unmittelbar gegenwärtigen Vorstellung. Schopenhauer nennt die zwei Momente auch das Vorgestelltwerden kat' entelecheian und das Vorgestelltwerdenkönnen kata dunamin.(22) Die Kausalität ist die formale Bedingung der Möglichkeit dieser Erfahrung und der Gegenstände der Erfahrung.

Zweitens haben wir die Welt als Vorstellung im Blick auf die Bedingung der Möglichkeit der ursprünglich-synthetischen Einheit der konkret-einzelnen deutlichen Vorstellung als das Zusammenspiel der Platonischen Idee als des urbildhaften Phantasma und der einzelnen Vorstellung dargestellt. Hier, auf der Ebene der Platonischen Idee, konnte zugleich die Allgemeinverbindlichkeit der Welt als Vorstellung für das allgemeine Subjekt eingeholt werden. Drittens konnte der Wille als die Bedingung der Möglichkeit der Platonischen Idee und damit als die Bedingung der Möglichkeit des Zusammenhaltens der Einheit der Welt als Vorstellung vorgezeichnet werden.

Hier können wir noch weiter gehen: z.B. weist der Wille, sofern er sich als die transzendentale Bedingung der Möglichkeit des Zusammenhaltens der Einheit der Welt als Vorstellung vollzieht, schon die Prägung der Allgemeinheit auf. Damit ist die Vermittlung von Einzelheit und Allgemeinheit ermöglicht. Auch der oben genannte 'Analogieschluß des Willens' könnte erst in diesem Problemfeld ausreichend interpretiert werden. Dieser all-eine Wille wäre dann ein unserer substantial-metaphysisch geprägten Denkform notwendiges Analogon des transzendentalen Willensverständnisses. Wenn in dieser Weise nur der Wille stets als die Bedingung der Möglichkeit der Welt als Vorstellung angesprochen wird, dann liegt die Vermutung nahe, daß auch die Kausalität eine handlungs- und daher willensgerichtete Artikulationsweise der Welt als Vorstellung ist. Ferner scheint mir die so oft umstrittene Möglichkeit der Willensverneinung nur philosophisch konsequent interpretierbar, wenn man den Willensbegriff nicht primär substantial, sondern transzendentalkritisch versteht. Diese Themen gehören allerdings zu dem anderen, nicht minder wichtigen Problemkreis der Welt als Wille.



Anhang: Was ist das 'Ding an sich' bei Schopenhauer?


Zum Schluß möchte ich auf das Problem des Dinges an sich zurückkommen.

1) Schopenhauer verwarf zur Zeit seiner Dissertation zuerst den Begriff des Dinges an sich, weil dieser ein Objekt außerhalb des Bewußtseins voraussetze. So schrieb er noch im Frühjahr 1814 in Weimar, wo er öfters Goethe traf: "Dinge an sich, die da wären ohne vorgestellt zu werden, die folglich etwas andres als Vorstellungen wären - solche Dinge uns vorzustellen ist der größtmögliche Widerspruch."(23) Dagegen bezeichnet Schopenhauer in der Dresdner Zeit die Platonische Idee und dann den Willen als Ding an sich.(24) Hier sollte man allerdings auf die Bedeutungsverschiebung des Begriffs "Ding an sich" achten. Denn "an sich sein" besagt in der Dresdner Zeit nicht mehr "vorhandensein außerhalb des Bewußtseins", sondern den eigentlichen Sinn der Annahme des bewußtseinstranszendenten Dinges: die Bedingung der Möglichkeit der Einheit und Stabilität der Erfahrung sein. So konnte die transzendentalphilosophisch umgedeutete Platonische Idee, die ja auch eine Vorstellung ist, Ding an sich genannt werden. Dasselbe gilt auch für den Willen. Deshalb wäre es nicht ausreichend, ja es bestünde die dringende Gefahr einer Verfälschung der Schopenhauerschen Philosophie, wenn man für ein bestimmtes Verständnis von Ding an sich, etwa für ein außerhalb des Bewußtseins vorhandenes Seiendes, vorentschiede und dem Gedankengang des jungen Schopenhauer nur die anfängliche Verwerfung und die spätere Rehabilitierung des immer schon so verstandenen Dinges an sich bescheinigte.

2) Bis unmittelbar vor dem Beginn der Niederschrift des Hauptwerks 1816 bleibt die Bezeichnung sowohl der Platonischen Idee als auch des Willens als Ding an sich bestehen.(25) Schopenhauer nannte im Hauptwerk allein den Willen, aber nicht mehr die Platonische Idee das Ding an sich. Über den Grund kann man nur spekulieren. Es ist durchaus möglich, daß Schopenhauer die Idee nicht mehr als Ding an sich bezeichnet hat, weil die Platonische Idee doch eine Vorstellung ist und in einer bewußtseinsimmanenten Einheit als Bedingung der Möglichkeit der Einheit der Erfahrung und der Welt vollständig innerhalb der Struktur der Welt als Vorstellung sich darstellen läßt. Die Platonische Idee sollte also in der Kantischen Tradition eher die formal-materiale Bedingung der Möglichkeit a priori der Welt als Vorstellung genannt werden. Dagegen ist der Wille die Bedingung der Möglichkeit des Zusammenhaltens der Welt aufgrund seiner Wirkung auf das Vorstellungsvermögen, dies ist aber nicht innerhalb jenes Spielraums von Idee und einzelnen Vorstellungen darstellbar. Er übersteigt in gewisser Weise die Welt als Vorstellung, auch wenn er auf keine außerhalb des Bewußtseins vorhandene Substanz weist.




* Vortrag während des Internationalen Schopenhauer-Jubiläumskongresses vom 6. bis 8. Mai 1988 in Frankfurt a. M., gehalten am 8. Mai.

1 WI,201.

2 WI,206.

3 WI,217.

4 WI,262.

5 WI,48.

6 WI,262.

7 Siehe HN 1, 169f. u.a.

8 Siehe HN 1, 390.

9 NH I, 130 f.

10 Siehe HN 1, 131 u.a.

11 Siehe HN 1,26 u.a.

12 HN 1,23 u.a.

13 Urfassung, Werke VII, 1-94 (= Go).

14 Go, 18, original gesperrt. Vgl. G, 27. Diese an Reinholds 'Satz des Bewußtseins' erinnernde Auffassung von 'Vorstellung' (siehe z.B. Reinhold, Beyträge zur Berichtigung bisheriger Mißverständnisse der Philosophen, Jena 1790, 5. 167) bezeugt, daß Schopenhauers Kant-Verständnis durch - den noch einmal durch G. E. Schulze vermittelten -Reinhold vermittelt ist. Vgl. dazu: G. Baum, "Aenesidemus oder der Satz vom Grunde", Zeitschrift für philosophische Forschung 33 (1979), 5. 352-370.

15 Siehe Go, 23- 25.

16 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 50.

17 Go, 77.

18 Siehe HN 1, 11.

19 Siehe Go, 63, Anm. Vgl. dazu B. Dörflingers Beitrag zum Frankfurter Jubiläums-kongreß: "Zur Erkenntnisbedeutung des Ästhetischen - Schopenhauers Beziehung zu Kant" (Sektion V "Schopenhauers Beziehung zur Tradition" vom 8. Mai 1988) sowie Y. Kamata, Der junge Schopenhauer, Freiburg/München 1988, 5. 168 - 171.

20 W 1, 48 und HN 1, 130f., bereits oben zitiert.

21 Siehe Go, 80.

22 Siehe Go, 24.

23 HN 1, 96.

24 Siehe HN 1, 149f., 169 u.a.

25 Siehe HN 1, 342 u.a.


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